Die Obsession
In den Jahren 1998 bis 2007 war der Fokus meiner Arbeit auf Recherchen zum Komponisten Giacomo Puccini gerichtet. Vor allem ging es über das Mysterium „Corinna“, sprich: die Identität seiner jungen Geliebten von Anfang 1900 bis Ende 1903. Der Fall hat unzählige Forscher und Hobbydetektive auf den Plan gerufen, ohne dass man über Vermutungen hinausgekommen wäre. Das Erstaunlichste dabei war, dass der volle Name jener neunzehnjährigen Frau im Umfeld Puccinis gut bekannt gewesen sein muss; dennoch wurde er nie schriftlich erwähnt, außer dem Vornamen „Corinna“ bzw. der Koseform „Cori“.
Die falsche Spur
Puccinis Verleger Ricordi hatte auf siebzehn Seiten brieflich seinen besten Komponisten beschworen, sich von dieser „verderbten“ Frau abzuwenden, die letztlich zu seinem künstlerischen Untergang und eventuell sogar zu einer Syphilis-Erkrankung führen würde. Die Beziehung schien immer vorrangig erotisch gewesen zu sein; Puccini war gewiss lange Zeit abhängig von ihr, und er versorgte seine Freunde des öfteren mit pikanten Geschichten, zum Beispiel über einen siebenfachen Geschlechtsverkehr während nur eines Wochenendes. Um dies gleich einzugestehen: Auch mir wäre kein Erfolg gegönnt gewesen, wäre mir nicht ein ungeheurer Zufall zu Hilfe gekommen. Denn aus einem Nachlass tauchte der Entwurf eines Abschiedsbriefes auf; dreizehn Seiten lang macht Puccini Corinna Vorwürfe, listet ihre vermeintlichen Laster und Liebhaber auf, entzieht ihr das „Du“ und schließt mit den Worten: „Ihr seid Scheiße! Und mit diesem Aufschrei entlasse ich Euch in Euer zukünftiges Leben.„
Hier gab es nun einen klaren Hinweis, der weitere Recherchen ermöglichte. Einer der Fehler, die Puccini auflistete, war nämlich, dass am 23. September 1903 „la sua padre“ – ihr Vater – wegen „Oltraggio al pudore“ – Erregung öffentlichen Ärgernisses – zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt worden war. Es genügte also, nach Turin zu fahren und im Archiv die Gerichtsprotokolle durchzusehen. Und am 23. September 1903 wurde tatsächlich ein gewisser Domenico Coriasco verurteilt, weil er sich einer Zwölfjährigen gegenüber exhibitioniert hatte. Ausgehend von diesem Namen fand ich in Saluzzo die Geburtsdaten seiner beiden Töchter, Domenica und Maria Anna. Maria Anna war nun nicht nur im richtigen Alter (das zuvor mit 17 bis 19 vermutet wurde), sondern ihr zweiter Vorname (A) NNA CORIasco ergab mit den ersten vier Buchstaben des Nachnamens auch ein Anagramm zu Corinna. Ein Wortspiel, wie es Puccini häufig anwendete, wenn es um die Namen seiner Entourage ging. Kurzum, es gab keinen vernünftigen Grund, diese Entdeckung der Welt vorzuenthalten. Und ich lag falsch.
Ein Wunder
Das wohl Erschreckendste an jenem Fehler ist, dass er beinahe auf alle Ewigkeit hinaus unentdeckt – und Maria Anna Coriasco für immer „La Corinna“ geblieben wäre. Doch geschah etwas wirklich Mirakulöses. In Puccinis letztem Domizil, der Villa in Viareggio, entdeckte ein Ingenieur etwa zwanzig Jahre nach dem Tod des Komponisten (1858–1924) in einem Verschlag hinter einer Wand mehrere Papiere, darunter Notizzettel und Notenblätter, sowie der Entwurf eines Telegramms vom Oktober 1901 an eine gewisse Corinna Maggia Besagter Ingenieur übergab sehr spät – 2009
– das Konvolut der Enkelin des Komponisten, Simonetta Puccini, die, wie es leider ihre Art war, den Fund in einen Mailänder Tresor steckte, ohne irgend einem Forscher Bescheid zu sagen. 2017 starb sie dann, und es dauerte gute zwei Jahre, ihren Nachlass zu durchforsten, bis jener ominöse kleine Zettel ans Licht kam. Der Name war der einer Turineser Lehrerin – und an mehreren Stellen in Briefen von Giacomos Freunden war von einer jungen Lehrerin aus Turin die Rede gewesen.
Die Trotzreaktion
Ich war konsterniert und wehrte mich zuerst noch gegen den Zusammenbruch meiner Beweiskette, zumal der Vater jener Corinna Maggia nie im Leben zu irgendeiner Haftstrafe verurteilt worden war. Endlich dämmerte es mir: Der Vorwurf im Abschiedsbrief (von dem ausgerechnet an dieser entscheidenden Stelle eine Seite fehlte) galt nicht etwa Corinna selbst, sondern einem Mädchen in ihrem Umfeld, einer Freundin, einer von den sogenannten „Näherinnen“, die Puccini als inadäquaten und zum Laster neigenden Umgang einstufte.
Giacomos Lebensgefährtin Elvira, mit der er zu jener Zeit seit etwa vierzehn Jahren in wilder Ehe lebte, hatte schon früh von der Affäre Wind bekommen und der Konkurrentin einmal sogar aufgelauert, um sie mit einem Regenschirm zu attackieren. Giacomo dazu zu bewegen, die Affäre zu beenden, gelang ihr nicht, und weil sie gar fürchten musste, von ihm verlassen zu werden, duldete sie drei Jahre lang seine regelmäßigen Treffen in Turin oder Genua. Einmal hat er Corinna sogar in seine Villa in Torre del Lago kommen lassen, bei Nacht und Nebel, während Elviras Abwesenheit. Die machte mobil, indem sie Giacomos engste Freunde auf ihre Seite zog; nach und nach wurden alle eingespannt, um dem Komponisten von dieser jungen Frau abzuraten, schließlich auch der Verleger Giulio Ricordi. Einzig der engste Freund Giacomos, der Kunstmaler Ferruccio Pagni, ein Romantiker, stellte sich auf Seiten Coris und musste infolgedessen nach einem heftigen Streit Torre de Lago verlassen, kurz vor der Premiere der Butterfly am 17. Februar 1904.
Detektivspiele
Den endgültigen Ausschlag für Elvira gab sicher auch der gemeinsame Sohn Antonio, aber Puccini war immer noch viel zu verliebt und charakterschwach, um einfach so einen Schlussstrich zu ziehen. Der überhaupt nur möglich wurde, weil der Komponist nach einem Autounfall ein halbes Jahr das Bett hüten musste, somit eine Art Entzug durchgemacht hat.
Mit Hilfe seiner Freunde, die teilweise, wie der übereifrige Luigi Pieri, sogar zu Detektiven für ihn werden und Corinna wochenlang beschatten, erschafft er eine Art virtuelle Realität, in der Cori zu so etwas wie einer Edelprostituierten gemacht wird. Nur so vermag Puccini den Absprung zu schaffen.
Lange Zeit waren die Forscher uneins, ob die gemachten Vorwürfe zutreffen könnten oder nicht, ob Corinna das Opfer einer Verleumdungskampagne wurde, oder ob sie tatsächlich ein etwas lockeres Leben führte.
Die auf sie angesetzten Detektive haben nachweislich (in wessen Auftrag – ob von Ricordi oder gar vom Komponisten selbst) gelogen, zum Beispiel haben sie ihren engen Freund Domenico Gaido, einen Grafiker und zukünftigen Kostümbildner, als ihren sechzehnjährigen (!) Zuhälter verleumdet. Und das, wo Gaido im Jahr 1903 bereits 28 Jahre alt und ein anerkannter Künstler gewesen ist. Die Detektive behaupteten auch, sie sei die Geliebte des Conte Ferraris gewesen, der in der Via San Quintino 5 wohne. Tatsache ist, es gab zu dieser Zeit drei Conte Ferraris in der Stadt, aber keiner wohnte in der Via San Quintino. Puccini schickt ihr den Abschiedsbrief in Form einer heftigen Anklage, aber die ebenso heftige Reaktion Corinnas deutet eher auf ihre Unschuld hin. Sie fährt sofort nach Mailand, um Giacomo zu treffen, dazu kommt es aber nicht, denn zwei Freunde des Komponisten spielen Türsteher und lassen sie nicht vor. Das Ganze bekommt Züge einer bitteren Schmierenkomödie.
Die Anwälte kommen zum Zug
Corinna schnappt sich einen jungen Turiner Staranwalt, Giovanni Govone, und droht mit der Veröffentlichung des gesamten Briefverkehrs sowie einer Anklage wegen Verleumdung, physischer Gewalt (evtl. die Regenschirmattacke Elviras) und wohl noch etwas anderem – unklar was, aber schwerwiegend genug, dass Puccini in Panik gerät und sogar eine Flucht in die Schweiz erwägt. Möglicherweise hat er die Geliebte, wie später Giulia Manfredi, zu einer Abtreibung gezwungen, vielleicht gab es noch andere Dinge, die den Verleger Giulio Ricordi, wie er sich brieflich ausdrückt, die „Haare zu Berge stehen lassen„. Auf jeden Fall agiert Corinna selbstbewusst und aus einer überlegenen Position heraus. Carlo Nasi, Puccinis Anwalt, handelt mühevoll einen Frieden aus, der wohl mit einem größeren Geldgeschenk verbunden gewesen sein muss. Am 28. November 1903 schreibt Puccini in einem Brief, die schlimmste Krise sei vorüber. Corinna händigt den gesamten Briefverkehr aus, der sehr wahrscheinlich verbrannt wird.
Die Frau
Wer war Corinna Elisa Maggia nun wirklich? Auch sie begann als gelernte Näherin, blieb deshalb lange dem Näherinnenmilieu verbunden. Doch wollte sie bald höher hinaus und ließ sich als Grundschullehrerin ausbilden, in den Spezialfächern Gymnastik und Hausarbeit. Nach der Trennung von Puccini schrieb sie ein Buch über die Ausbildung junger Mädchen und bildete sich auf der Universität fort, bis sie sich eine Maestra, vielleicht sogar eine Professoressa nennen durfte. Sie war wohl sehr belesen, im Internet tauchte – purer Zufall – ein Buch von D’Annunzio auf, das ihr der exzentrische Poet im Januar 1901 signiert hat. Aufgrund einer Todesanzeige weiß man auch, dass Corinna eine enge Freundin von Ugo de Amicis gewesen sein muss, dem Autor und Sohn des in Italien noch viel berühmteren Schriftstellers Edmondo de Amicis.
Nach Puccini
Etwa 1905 lernt sie einen jungen Anwalt kennen, Edgardo Rodina, Sohn des ehemaligen königlichen Leibarztes. Edgardo verehrt vor allem deutsche Komponisten, Weber, Beethoven und Wagner, sieht Puccini entfernt ähnlich, ist Strafverteidiger, in seiner Freizeit aber auch ein Zeichner und Kupferstecher, der zahllose Ex Libris entwirft und schließlich Präsident der italienischen Ex-Libris-Gesellschaft wird. Das erste für seine künftige Gattin stammt wohl aus der Zeit, als die Trennung von Puccini noch nicht lange zurücklag. Es zeigt ein Küken, das aus dem Ei schlüpft, darunter ein Wahlspruch, entnommen einem Roman von D’Annunzio: Rinnovarsi o morire, – sich neu erfinden oder sterben.
Wie sah sie aus?
Komponistenkollege Umberto Giordano, der sie eines Tages (ob real oder ob auf einem Foto ist ungewiss), zu Gesicht bekam, meinte etwas abfällig sinngemäß: „So viel Trubel wegen so was.“ Es kann also sein, dass sie nicht in jedermanns Augen schön war, obwohl es auch andere Stimmen gibt, die von der „hübschen Lehrerin aus Turin“ sprechen. Die einzige Darstellung Corinnas bisher entnehmen wir einem Ex Libris, auf der Edgardo uns ein Jahr vor der Hochzeit, am 26. Juli 1911, die Verlobte als antike Göttin auf einer Quadriga zeigt. Im Laufe der Recherchen fand ich einen lebenden Verwandten Corinnas, einen Großneffen, dessen noch immer lebende Mutter sich erinnern konnte, sie in den fünfziger Jahren mit eigenen Augen gesehen zu haben. Sie sei definitiv nicht blond gewesen und stets eine sehr elegante Erscheinung. An Näheres kann sich die hochbetagte Dame leider nicht erinnern.
Corinna jedenfalls hat mit der Wahl ihres Gatten anscheinend Glück gehabt. Die beiden konnten es sich leisten, 1911 eine zweijährige Auszeit zu nehmen und nach Sori überzusiedeln, einem beliebten kleinen Badeort bei Genua. Edgardo hatte Corinna übrigens nur unter der Bedingung geheiratet, dass sie jede physische Erinnerung an Puccini verbrennen würde. Dazu gehörten auch Liebesbriefe, die sie ihm schickte und die er, weil sie ihn so sehr bewegten, vertont hat. Schade drum. Die Ehe bleibt kinderlos.
1950 stirbt Edgardo und wird auf dem Cimitero Monumentale in Turin beerdigt, in einem extra für ihn und seine Familie vom bekannten Architekten Gino Levi-Montalcini (Bruder einer Nobelpreisträgerin) entworfenen Grabmal. Corinna lebt noch lange, bis 1973, zuletzt in einem Altenheim in Andora an der ligurischen Küste (Nähe Imperia), bevor auch sie neben ihrem Mann die letzte Ruhe findet.
Vor Puccini
Ihre Geschichte hat sie irgendwann ihrem Neffen Mario Beccuti erzählt, und der wiederum seinem Neffen. Die Affäre mit Puccini war in der Familie nie ein Geheimnis gewesen; Vater und Mutter wussten – erstaunlicherweise – immer Bescheid. Es stellte sich heraus, dass Corinna bereits vor Giacomo, also als Siebzehnjährige, einen festen Freund gehabt hatte, einen gewissen Ingenieur Redaelli aus Mailand, der wiederum ein Bekannter Puccinis war. Von daher lässt sich mutmaßen, dass die angeblich zufällige Begegnung im Zug (Strecke Mailand–Turin), auf der Corinna und Giacomo sich erstmals begegnet sein sollen, womöglich nicht so zufällig gewesen sein dürfte.
Corinna wird von den Zeitgenossen beschrieben als sehr schlau, stolz, eigensinnig, und als jemand, der sich beim Gehen auf der Straße öfter einmal abrupt nach hinten umsieht. Natürlich war sie eine Hauptinspiration für die Figur der Madama Butterfly, (wie andere Frauen für andere seiner weiblichen Figuren) aber inwieweit ihr Wesen oder ihr Sprachduktus Einzug in die Partitur gefunden haben, darüber kann allerhöchstens spekuliert werden.
Wirklich erstaunlich ist, dass bis heute weder von ihr noch von ihrem Mann, der sich in hohen gesellschaftlichen Stellungen befand, ein Foto aufgetaucht ist. Von Edgardo Rodina besitzen wir wenigstens ein gezeichnetes Selbstportrait.
Im Sommer 1903, kurz vor der Trennung, hat Puccinis Leibfotograf Oreste Bertieri ein paar Fotos von Corinna gemacht, gratis, was ihm den Verdacht einbrachte, selbst einer ihrer „vielen Liebhaber“ zu sein. In einer italienischen Auktion neulich gab es ein Porträtfoto Oreste Bertieris (für die damalige Zeit ungewohnt lasziv, denn mit entblößter Schulter) einer anonymen Frau, die eben die richtige Frisur (aus der Zeichnung der Quadriga-Göttin) trägt. Ist das eventuell Corinna?
Wie auch immer: Es war eine große, leidenschaftliche, romantische Liebe, die Giacomo und Corinna verband. Am Ende hat die Familie den Ausschlag gegeben, wie so oft. Ob Corinna, was ihr ja gar nicht zu verübeln wäre, noch andere Verehrer und Liebhaber neben dem weit älteren und nur alle paar Wochen verfügbaren Komponisten unterhielt, sei dahingestellt, aber der Vorwurf, eine Art Escort-Dame gewesen zu sein, ist mithin schon sehr sehr unwahrscheinlich geworden.
Man kann in Turin Corinnas ehemaliges Schlafzimmer betreten. Die Erdgeschosswohnung in der Via Massena 19 beherbergt heute ein polnisches Restaurant, damals war sie Teil eines gutbürgerlichen Hauses mit Concierge und Ladengeschäft; Vater Tommaso Andrea Maggia handelte mit Lebensmitteln. Corinna wohnte dort mit ihren Eltern und ihrer Schwester; nein, nichts in Corinna M.s Lebenslauf weist auf Ausschweifungen hin, sonst hätte sich ein hochangesehener Bürger wie Edgardo Rodina kaum entscheiden können, sie zu ehelichen.
Es gibt noch ein interessantes Detail der Affäre. Denn jüngst ist ein Klavierauszug der Madama Butterfly aufgetaucht, mit einem Besitz-Ex-Libris von Edgardo Rodina darin. Das Pikante daran: Es handelt sich um die Erstausgabe des Klavierauszugs, heutzutage mit bis zu 4000 Euro gehandelt, weil sie nie in den Verkauf kam und sofort nach dem spektakulären Fiasko der Premiere eingestampft wurde. Obwohl es auch andere Erklärungsmöglichkeiten gibt, reizt doch der Gedanke, dass Giacomo der ehemaligen Geliebten ein Exemplar zukommen ließ, als Dank für eine gemeinsame Zeit, deren Euphorie ihm zweifelsfrei geholfen hat, die Oper zu vollenden. Denn Puccini konnte, laut eigener Aussage, nur Musik schreiben, wenn er verliebt war.
Corinna Maggia
14.2.1881 – 24.4. 1973